Zwischen „Dada“ und Quillota

Udo Rukser wurde 1892 in Posen geboren. Am Auguste Viktoria-Gymnasium bestand er dort 1910 das Abitur. Das Berufsziel „Rechtswissenschaft“ entsprach dem „Stand“ des Vaters: „Oberlandesgerichtsrat u. Geheimer Justizrat“. Gleichwohl dürfte Rukser die Entscheidung nicht leicht gefallen sein, wie seine literarischen Versuche als Übersetzer, Musik-, Architektur- und Kunstkritiker zeigen. Seit seiner Studienzeit bewegte er sich in der Berliner Bohème, im Kreis der Expressionisten und Dadaisten. Vielseitig talentiert, war er offen für die politischen und künstlerischen Strömungen der Moderne. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs erschüttert ihn zutiefst. [mehr]

Porträt Dr. Udo Rukser von Hans Richter, 1914 (Privatbesitz; Gouache, Buntstift auf Karton, signiert u. bezeichnet u. l.: „s[einem] l[ieben]. Dr. Rukser / Hans Richter 14“)

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Als ungedienter Landsturmmann musste Udo Rukser seit 1916 Feldgrau tragen. 1913 in Breslau promoviert, konnte er erst 1919 seine Ausbildung als Jurist mit dem zweiten Staatsexamen abschließen und sich in Berlin als Rechtsanwalt niederlassen. In Prozessen vertrat er u.a. den als Oberdada bekannten Aktionskünstler Johannes Baader und den Komponisten Erwin Lendvai.


Wohl nicht zuletzt aufgrund seiner Herkunft – geboren in der infolge des Versailler Vertrags an Polen gefallenen preußischen Provinzhauptstadt – erkannte Rukser die sich durch die oktroyierten Gebietsveränderungen ergebende Bedeutung des Minderheitenrechts als einer neuen Disziplin des Völkerrechts. 1921 erschien sein Leitfaden „Die Rechtsstellung der Deutschen in Polen“, der hauptsächlich die Rechtslage in den an Polen abgetretenen früheren preußischen Gebietsteilen behandelte. Er lernte Polnisch und erwog im Herbst 1923, aufgrund Art. 4 des Minderheitenvertrages „Anspruch auf Anerkennung der polnischen Staatsangehörigkeit anzumelden“. Als Vertrauensmann des Auswärtigen Amts unterhielt er Kontakte zu renommierten polnischen Anwälten und Rechtsprofessoren, die bereit waren, Mandate von Angehörigen der deutschen Minderheit wahrzunehmen oder sich als Gutachter zu betätigen. Zu den Mandanten seiner Anwaltspraxis zählten Deutsche, die nicht für Polen optiert hatten und deren Grundbesitz von der Liquidation bedroht war. Vor allem aber vertrauten der einflussreiche Interessenverband der Domänenpächter sowie von der Abtretung betroffene Großgrundbesitzer und „Personnes royales“ Ruksers Diensten als Anwalt. Nach dem Abschluss des deutsch-polnischen Liquidationsabkommens im Jahre 1929 flossen die Erträge aus dieser Tätigkeit: Udo Rukser zählte am Ende der Weimarer Republik zu den bestverdienenden Anwälten der Reichshauptstadt.


1925 begründete Rukser zusammen mit Heinrich Freund [mehr] und Erwin Loewenfeld [mehr] – beide ebenfalls Rechtsanwälte in Berlin – die Zeitschrift „Ostrecht“. Die Monatsschrift wurde nach der Fusion mit der vom Osteuropa-Institut in Breslau herausgegebenen „Zeitschrift für Osteuropäisches Recht“ seit 1927 als „Zeitschrift für Ostrecht“

fortgesetzt und u.a. vom Auswärtigen Amt subventioniert. Rukser zeichnete für den redaktionellen Teil der Zeitschrift verantwortlich. Nach der „Machtübernahme“ war er auch unter dem Druck insbesondere des preußischen Kultusministeriums nicht bereit, an der „Arisierung“ der Zeitschrift mitzuwirken. Ohne Zögern lehnte er eine alleinige Herausgeberschaft ab und erklärte sich in dieser „Ehrenfrage“ mit seinen jüdischen Kollegen Freund und Loewenfeld solidarisch. Mit dem März-Heft 1934 musste die Zeitschrift daraufhin ihr Erscheinen einstellen.


Als Reaktion auf das „Ende der freien Advokatur“ im „Dritten Reich“ verzichtete Rukser 1934 auf seine Zulassung als Rechtsanwalt. 1932 hatte er in der Villenkolonie Neubabelsberg  ein Anwesen mit direktem Zugang zum Griebnitzsee erworben. In 2. Ehe mit Dora Richter verheiratet, mochte er mit gut vierzig Jahren sein Leben als Rentier dort aber nicht beschließen. Auf der Höri am Bodensee kaufte Rukser den Oberbühlhof, den er in nur wenigen Jahren mit großen Investitionen zu einem musterhaften Obstgut umgestaltete. Aus Berlin mitgebracht hatte Rukser seine Sammlung von Werken der klassischen Moderne. Der „Oberbühl“ war kein „Hotel“ (Walter Trier), aber Künstler und Freunde waren dort immer willkommen, auch jüdische Eleven, die nach Palästina auszuwandern hofften. Seit 1938 versuchte Rukser vergeblich, den Oberbühlhof im Tausch gegen ein Gut eines deutschen Rückwanderers aus Südamerika einzubringen. Mit großem Geschick regelte er seine Vermögensverhältnisse im Hinblick auf die minutiös geplante legale Auswanderung. Aber es gelang ihm zunächst nicht, den Oberbühlhof zu verkaufen. Im März 1939 nahm er mit viel Gepäck für den Neubeginn in Chile „Abschied“. Für alles Zurückgelassene bestellte er Paul Weber (Bodman) als Treuhänder und Generalverwalter. Seine jüdische Ehefrau, eine Schwester des Dadaisten und Cineasten Hans Richter, hatte sich bereits bei Freunden in der Schweiz aufgehalten und durch eine Ausbildung zur Diätköchin auf die Emigration vorbereitet. Etwa auf halber Strecke zwischen Santiago de Chile und Valparaíso konnte Rukser ein Stück Land, eine „chacra“, erwerben und im Obstanbau wieder Fuß fassen.

[Toreinfahrt „Las Gracias“, 2011 | mehr]


Im vierten Kriegsjahr tritt Rukser zusammen mit Albert Theile (1904–1986) [mehr], einem mittellosen Flüchtling aus Hitler-Deutschland, als Gründer und Mitherausgeber der „Deutschen Blätter“ (Santiago de Chile) an die Öffentlichkeit. Er zeichnet als Herausgeber und Autor mit seinem Namen, publizierte aber auch unter verschiedenen Pseudonymen. Und er trug bis zum Ende der Zeitschrift 1946 unter großen Opfern zur Finanzierung der Zeitschrift bei. Die „Deutschen Blätter“ wollten von Anfang an „eine politische Zeitschrift“ sein:


„Wir hätten am liebsten den Titel: das deutsche Gewissen gewählt; er erschien uns aber zu anspruchsvoll. Es ist aber das deutsche Gewissen, dass diese Blätter geweckt hat. Tiefe Beschämung und Abscheu über das, was heute im deutschen Namen geschieht, liess uns nicht länger schweigen.“


Als Herausgeber prägte Rukser das Exilorgan, gegründet als „eine deutsche Zeitschrift in Amerika“: unabhängig und überparteilich. Das sollte die „Deutschen Blätter“ von allen anderen publizistischen Foren des Exils unterscheiden. Das verbindende Leitmotiv findet sich auf jedem Titelblatt der insgesamt 34 Hefte der von Mauricio Amster graphisch gestalteten Zeitschrift: „Für ein europäisches Deutschland / Gegen ein europäisches Deutschland“. Von „Las Gracias“ in Quillota und Santiago de Chile aus knüpfte Rukser als unermüdlicher Briefschreiber – unterstützt von seiner Ehefrau

[Udora, Las Gracias 1947 |  Mit „Udora“ unterzeichneten Udo und Dora Rukser gemeinsame Briefe an Freunde.]

als Redaktions- und Verlagssekretärin, Übersetzerin und Archivarin „in einer Person“ (Albert Theile) – ein im deutschsprachigen Exil einzigartiges informelles Netzwerk, das sich weit über Süd-, Mittel- und Nordamerika hinaus erstreckte. Nach Kriegsende scheiterten alle Bemühungen, für die „Deutschen Blätter“ einen Verlag in Europa zu finden. Von in deutschen Kreisen Chiles tonangebenden „Nazis“ wurden auch später noch „Verleumdungen“ gestreut, Rukser habe die Zeitschrift „mit alliiertem Gelde und auf alliierte Veranlassung gemacht“.


Kritisch beobachtete Rukser nach 1945 die Entwicklung im Vierzonen-Deutschland. Die Gründung des Teilstaates im Westen hielt er für verhängnisvoll. Im gleichen Jahr – „im Goethejahr 1949“ – fasste er „den Entschluß, das Verhältnis der spanischen Welt zu Goethe darzustellen“. Das Buch erscheint 1958 in der J. B. Metzlerschen Verlagsbuchhandlung Stuttgart, sechs Jahre nach seinem Tod auch auf Spanisch. Die „Neue Zürcher Zeitung“ urteilt über das der „Lebensgefährtin Dora“ gewidmete Buch: „geradezu eine Pionierleistung“ der „Goethe-Philologie, Hispanistik und Komparatistik“. Weitere Arbeiten zur hispanischen Kultur- und Geistesgeschichte folgten. Eine dauernde Rückkehr nach Deutschland und eine Wiederaufnahme des Anwaltsberufes hat Rukser – 1944 in Deutschland ausgebürgert und erst seit 1949 chilenischer Staatsbürger – für sich stets ausgeschlossen. Von der Anregung bis zur Auszeichnung Ruksers mit dem Großen Bundesverdienstkreuz 1962 dauerte es fast zehn Jahre. Seit 1966 Mitglied der Philosophischen und Pädagogischen Fakultät der Universität Santiago [mehr],

wurde Rukser 1967 der höchste chilenische Orden Bernardo O’Higgins verliehen. Wenige Wochen nach der Überreichung der Goethe-Medaille in Gold „für hervorragende Verdienste um die deutsche Sprache im Ausland“ im April 1971 im Goethe-Institut in Santiago de Chile ist Udo Rukser in Quillota gestorben. Von Teilen des Redaktionsarchivs der „Deutschen Blätter“ und Splitterüberlieferungen abgesehen, ist ein Nachlass offenbar nicht erhalten. In der Dauerausstellung „Literaturlandschaft Höri“ erinnert das Hesse Museum Gaienhofen am Bodensee seit 2007 auch an „Udo Rukser und seine Welt“. [mehr]